Mai 2020TEXT: Monika MingotFOTO: Johann Sauty

Die Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern wird zum Schlüsselfaktor für Unternehmen. Sie ist jedoch noch lange nicht selbstverständlich. Mit ihren Zertifizierungen zeichnet die Stiftung EQUAL-SALARY Unternehmen aus, bei denen Lohngerechtigkeit verankert ist. Im Interview spricht Véronique Goy Veenhuys, Gründerin von EQUAL-SALARY, über das hochaktuelle Thema.

 

Eine ketzerische Frage zum Start: Das Ziel Ihrer Stiftung müsste eigentlich sein, dass Ihre Arbeit überflüssig wird, richtig?
Die Stiftung sieht sich in der Tat mit einer Herausforderung konfrontiert: Unser Ziel ist die Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern. Am Tag, an dem wir dieses Ziel aber erreichen, ist die Zeit unserer Stiftung abgelaufen. Es bleibt noch viel zu tun, und selbstverständlich wird der Tag, an dem die Stiftung nicht mehr benötigt wird, ein Tag zum Feiern sein.

In der Schweiz ist die Gleichstellung seit 1981 in der Verfassung und seit 1996 im Gleichstellungsgesetz verankert. Trotzdem verdienen Frauen heute im Schnitt noch immer 18 Prozent weniger als Männer für die gleiche Arbeit. Ärgert Sie das?
Letztendlich ist die Lohngleichheit Teil eines weit umfassenderen Problems, nämlich der Gleichstellung im allgemeinen. Frauen wollen sich nicht als Bürgerinnen zweiter Klasse fühlen. Das Thema Lohngleichheit bringt Missstände in Form von Zahlen ans Licht. Es ist das Ergebnis eines historischen Ausmasses an Ungleichheiten. Noch viel ärgerlicher finde ich jedoch die Trägheit der Politik. Verstösst ein Unternehmen gegen Arbeitsgesetze, wird dies verurteilt.  Das Recht sieht jedoch keine Sanktionen vor, wenn ein Unternehmen die Lohngleichheit missachtet. Das ärgert mich. Was wir anstreben, ist die allgemeine Gleichbehandlung.

Véronique Goy Veenhuys ist eine soziale Unternehmerin, die mit vollem Einsatz für Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern kämpft, und 2010 die Non-Profit-Organisation EQUAL-SALARY gegründet hat. Sie hat 2005 das Konzept der Zertifizierung entwickelt und überwacht seither dessen Entwicklung.

 

Woran liegt es, dass «gleicher Lohn für gleiche Arbeit» auch im Jahr 2020 noch immer eine Utopie ist?
Ich würde nicht von einer Utopie sprechen, wo doch das Gleichstellungsgesetz in diesem Jahr – wenn auch sehr zaghaft – geändert wird. Die Ungleichheit zwischen Frau und Mann beruht auf einem sozialen Konstrukt, das schon sehr lange besteht und tiefsitzende Vorurteile hervorgebracht hat. Diese vermitteln wir alle auf die eine oder andere Art weiter. Folglich ist der Weg hin zur Gleichstellung lang und mühsam. Es handelt sich jedoch um eine zentrale Fragestellung, die dringend angegangen werden muss, zumal sie die Allgemeinheit und nicht nur Einzelpersonen betrifft. Wird eine Person nicht ordnungsgemäss entlohnt, kann dies zu einer gewissen Verarmung führen. Insbesondere in unserer Gesellschaft mit immer mehr Alleinerziehenden. Die Differenz muss durch den Staat ausgeglichen werden, was sich auch auf die Renten auswirkt. Die Folgen gehen somit über die Einzelperson hinaus.

Oft wird den Frauen der Ball zugespielt. Sie müssten härter verhandeln, heisst es. Teilen Sie diese Auffassung?
Dieser Aussage widerspreche ich. Stellt ein Unternehmen Mitarbeitende an, egal ob Männer oder Frauen, sollte das Budget entsprechend der Lohnpolitik festgelegt werden. In einem zertifizierten Unternehmen wird der Lohn unabhängig vom Verhandlungsgeschick des Bewerbers festgelegt. Ein zertifiziertes Unternehmen kann es sich nicht erlauben, die Rahmenbedingungen zu missachten, die es sich gesetzt hat. Es ist folglich nicht der «Fehler der Frauen». Solange jedoch die Mehrheit der Unternehmen keine transparenten Massnahmen für die Lohngleichheit ergriffen hat, muss sich ein Bewerber, ob Mann oder Frau, unbedingt erkundigen, wie viel Lohn ihm unter Berücksichtigung der ausgeschriebenen Stelle, der Kompetenzen, des Sektors und der geografischen Region zusteht.

Denken Sie, dass Unternehmen und Angestellte ausreichend über das Thema informiert sind?
Bisher vielleicht nicht. Mit dem neuen Gesetz, das im Juli 2020 in Kraft tritt, wird sich dies jedoch ändern. Alle Unternehmen mit mehr als 100 Angestellten werden ihre Lohndaten überprüfen müssen. Diese Massnahme wird etwa 45 Prozent der Angestellten in der Schweiz betreffen. Es wird also ein echtes kollektives Bewusstsein für die Problematik entstehen. Allerdings konzentriert man sich mit der Lohnanalyse auf die Zahlen. Die indirekte Diskriminierung bleibt bestehen: Fragen rund um Ausbildung, Beförderung und Lohnentwicklung werden sich weiterhin stellen. In diesem Bereich besteht noch viel Verbesserungspotenzial.

Sie sind selbst Unternehmerin. Warum haben Sie die Lohngleichheit zu Ihrem Thema gemacht und die Stiftung gegründet?
Ich habe festgestellt, dass in diesem Bereich vorbildliche Unternehmen ihre Angestellten nur schwer davon überzeugen können, dass die Lohngleichheit im Unternehmen eingehalten wird, wo doch die allgemeinen Statistiken das Gegenteil belegen. Ich wollte ihnen ein Hilfsmittel zur Unterscheidung an die Hand geben.

Lohngleichheit ist eine Frage der Kultur. Es ist nicht damit getan, dass ein Unternehmen eine entsprechende Politik ausarbeitet. Sie muss vom Management authentisch vorgelebt werden. »
Thomas Illi, Managing Director Lyreco Schweiz AG

Worin bestehen die wichtigsten Vorteile einer Zertifizierung?
In der gegenwärtigen Wirtschaftslage genügt es nicht mehr, einfach zu sagen, ein Unternehmen unterstütze die Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern. Man muss es auch beweisen. Eine Zertifizierung ermöglicht es, die Prinzipien einer guten Governance aufzuzeigen und Transparenz unter Beweis zu stellen. Durch sie lässt sich die Kapazität zur Gewinnung und Bindung von Talenten erhöhen – nicht zuletzt von weiblichen. Sie erlaubt es zudem, mögliche Risiken in Verbindung mit Fällen von Lohnungleichheit zu antizipieren. Das ist für Unternehmen wie Lyreco, die im öffentlichen Beschaffungswesen tätig sind, sehr wichtig. Wird im Rahmen einer Ausschreibung die Einhaltung der Lohngleichheit verlangt, muss das Unternehmen in der Lage sein, sie zu überprüfen und zu belegen.

Warum sollte man sich durch eine Organisation wie die Ihre zertifizieren lassen?
Eine Zertifizierung führt mithilfe eines gut strukturierten Ansatzes, sowohl hinsichtlich der Zahlen als auch der Qualität, zu mehr Transparenz und Objektivität. Gleichzeitig wird durch den Beizug eines Dritten die Vertraulichkeit gewahrt. Bei EQUAL-SALARY ist das einzige Kriterium für die Validierung die Exzellenz. Für eine EQUAL-SALARY-Zertifizierung reicht es nicht, nur Kästchen anzukreuzen. Das Zertifizierungsverfahren ermöglicht eine kontinuierliche Verbesserung, nicht zuletzt, weil HR-Prozesse kontrolliert werden und sich die Geschäftsführung für die Gleichstellung engagiert.

Inwiefern ist Lyreco beispielhaft bezüglich der Gleichstellung?
Lyreco gehört zu den Pionierunternehmen, die nicht darauf gewartet haben, dass das Gesetz sie zum Handeln zwingt. Im Mai 2019 hat es zum zweiten Mal die EQUAL-SALARY-Zertifizierung erhalten. Die Rezertifizierung unterstreicht das kontinuierliche Engagement von Lyreco im Bereich Lohngleichstellung von Frau und Mann und unterstreicht die faire Mitarbeiterpolitik.

Welches persönliche Ziel haben Sie sich hinsichtlich der Lohngleichheit für die nächsten fünf Jahre gesetzt?
Unser Ziel ist, dass die EQUAL-SALARY-Zertifizierung in fünf Jahren Auswirkungen auf eine Millionen Männer und Frauen hat. Ich hoffe, dass das neue Gesetz seine Wirkung entfaltet und meine Enkelkinder in einer Welt ohne diese Problematik aufwachsen können. Zudem hoffe ich, dass das Erkennen des menschlichen Werts infolge der aktuellen Krise es ermöglichen wird, uns auf ein gerechteres System zuzubewegen.

 

Die EQUAL-SALARY-Zertifizierung

Durch die EQUAL-SALARY-Zertifizierung können Unternehmen überprüfen und belegen, dass sie ihren weiblichen wie männlichen Angestellten für die gleiche Arbeit auch den gleichen Lohn zahlen. Sie richtet sich an Unternehmen ab 50 Angestellten (davon mindestens 10 Frauen) aus allen Ländern, ob im privaten und öffentlichen Sektor, die die Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern vorantreiben möchten.

Wir dürfen zurecht sagen, dass EQUAL-SALARY mehr als nur eine simple schriftliche Erklärung ist. Heute ist das Thema tief in unserer Kultur verankert. »
Thomas Illi, Managing Director Lyreco Schweiz AG

Änderung des Gleichstellungs-Gesetzes

Im Dezember 2018 hat das Schweizer Parlament eine Änderung des Gesetzes über die Gleichstellung von Frau und Mann (GIG) verabschiedet, die am 1. Juli 2020 in der Schweiz in Kraft tritt. Diese Änderung legt fest, dass jede Organisation mit mehr als 100 Angestellten mittels einer wissenschaftlichen und rechtskonformen Methode eine statistische Analyse ihres Gesamtlohnvolumens durchführen muss.

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